Vor einer Menschenmenge zu sprechen, fällt vielen Menschen schwer. Denn eine häufige Krankheit, die im Volksmund als „Lampenfieber“ bezeichnet wird, befällt die Sprechenden – und hindert und hemmt sie, das zu sagen, was sie ohne Frage überzeugend sagen könnten und würden. Wenn nicht dieses Fieber wäre. Viele leiden ihr Leben lang unter diesen „Lampenfieberschüben“. Versagensängste und Selbstvorwürfe sind oft die Folge. Wo der Eine aufgibt und leidet, versucht der Andere, sich durch maximale Vorbereitung und ein „Alles-Vorab-Durchinszenieren“ auf die sichere (innere) Seite zu bringen: Oft ohne durchschlagenden Erfolg. Wieder andere profitieren von Zufällen, die wie eine Wunderheilung wirken und Ihnen zeigen, dass nichts leichter ist, als frei und ungezwungen vor vielen anderen Menschen zu sprechen. Wenn wir so sprechen, wie wir sind, können wir unser Lampenfieber bekämpfen.
Es war einmal: Die Referentin Amalie Beispiel
… tätig in einer obersten Landesbehörde, im Referat Beispielswesen der Stadt Hamburg. Es hätte auch die Beispielsbank sein können: Auf höchster Ebene war ein Bericht vorzulegen und zu referieren. Das Schreiben lag Amalie. Der schriftliche Bericht war perfekt. Aber „tausend Augen auf sich zu spüren“, das lag ihr nicht. Und „tausend Ohren“ als Zuhörer zu haben, ebenso wenig. Und: Auch wenn das Kostüm perfekt saß, die Haarsträhne nur so, wie erlaubt in ihr Gesicht fiel und eigentlich alles ebenso unangreifbar, wie die schriftliche Ausarbeitung war – Amalie hatte Angst. Und so kompetent, wie sie war, so wortreich und strukturiert auf dem Papier: Bitte nicht mündlich, eine Telefonkonferenz – Ok, aber bitte nicht alleine vor einem Publikum stehen. Das mochte sie schon in der Schule nicht.
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold?
An diesem Tag war nichts perfekt. Amalie kam zu spät. Das Kostüm hatte sie nicht, wie sonst, in Ruhe ausgesucht. Es hatte einen Fleck. Und die Haare – oh je. Hoffentlich sah niemand, dass die Wimperntusche noch von gestern war, war ihr letzter Gedanke, als sie fünf Minuten zu spät neben ihrem Referatsleiter Platz nahm. Alle sahen sie an. Der Referatsleiter erkundigte sich gelassen, ob sie noch einen Parkplatz in der Nähe gefunden hätte – hatte er keine anderen Sorgen? Ehe sie richtig zu sich gekommen war, wurde sie vom Vorsitzenden der Veranstaltung angesprochen – und ihr Beitrag verlangt. Noch ein wenig außer Atem, ging sie nach vorne, sah die Anwesenden an und begann – als wäre sie in vertrauter Runde – mit einer Begrüßung … und Entschuldigung: Nichts sei heute perfekt, sie hätte verschlafen – für den Fleck auf dem Rock und die nicht geordnete Frisur würde sie um Nachsicht bitten, sich aber nun umso mehr bemühen, die Inhalte anschaulich – und ohne verspätungsbedingte Mängel – vorzutragen. Sie sah ein – unerwartetes – Schmunzeln auf den Gesichtern der Hörerschaft. Das machte ihr Mut: Und sie berichtete und berichtete. Bis irgendwann der „Faden riss“.
Authentizität versus Perfektion
Amalie Beispiel spürte den Lampenfieberschub. Ganz heiß wurde ihr: Was sollte sie sagen …? Und weil ohnehin schon nichts „perfekt“ war, sagte sie: „Es tut mir leid, meine Damen und Herren. Ich muss Sie ein zweites Mal um Nachsicht bitten. Ich habe den Faden verloren – vielleicht können Sie mir helfen?“ Nach einer kurzen Stille, die ihr unerträglich schien, ergriff ein Kollege das Wort. Sie dankte und setzte ihren Vortrag fort. Viel gelassener als sonst – was sollte noch passieren? Als sie – nach einem anerkennenden Applaus – neben ihrem Referatsleiter Platz nahm, reichte er ihr einen Keks: Den hast Du Dir verdient. Als sie ein Stück abbiss, sah sie alle Augen auf sich gerichtet. Der trockene Vollkornkeks brach mit ‚zig Dezibel. Sie sah in die Runde und hörte sich – völlig überraschend – sagen: Zu spät kommen, mit einem Fleck auf dem Rock, ungeordnet vortragen – und dann auch noch einen lauten Keks essen … es soll nicht mehr vorkommen.
Sagen Sie doch, was Sie wollen! – und das öfter
Der Vorsitzende lächelte sie an und sagte: Sie sollten öfter zu spät kommen, Frau Beispiel. Wir haben lange nicht einer so inhaltsreichen und lebendig vorgetragenen Stellungnahme zuhören dürfen. Amalie schmunzelte ein wenig überrascht und suchte dann den Blickkontakt zu den anderen. Die schienen gleichermaßen erfreut. Sie strich die zweite Strähne ihres Haares – die, die niemals ins Gesicht fallen durfte – zurück und freute sich, dass sie da war. Das betraf sie selbst, ebenso, wie die Strähne und auch den Fleck auf dem Rock. Amalie Beispiel kam fortan wieder pünktlich, aber hatte erkannt, dass sie vor Menschen sprechen konnte, auch ohne vorher ein Coaching in Hamburg für „freie Rede“ zu besuchen. Wenn sie es so tat, wie sie es wollte, war ihr Lampenfieber nicht mehr da.